Politische Strafjustiz richtet weniger über begangene Taten als über die Gesinnung. Am Montag fiel in St. Petersburg das Urteil gegen zwei Antifaschisten im »Netzwerk«-Fall. Sieben und fünfeinhalb Jahre Freiheitsentzug verhängte das zuständige Militärgericht gegen Viktor Filinkow und Julij Bojarschinow bei einer möglichen Höchststrafe von zehn Jahren. Beide sollen einer terroristischen Zelle angehört haben, die in Verbindung zu zwei Gruppen in der Stadt Pensa stand. Dort endete im Februar der Prozess gegen sieben Angeklagte, darunter auch die vermeintlichen Anführer, mit drakonischen Haftstrafen zwischen sechs und 18 Jahren.
Im Januar 2019 war in St. Petersburg das erste Urteil in dem Fall verhängt worden: Igor Schischkin, der seit Ermittlungsbeginn mit dem für Terrorismusdelikte zuständigen Inlandsgeheimdienst FSB kooperierte, erhielt dreieinhalb Jahre. Bojarschinow legte erst nach längerer Untersuchungshaft unter absolut unzulässigen Bedingungen ein Geständnis ab. Weil bei ihm eine geringe Menge Schwarzpulver gefunden worden war, legte ihm das Gericht außerdem illegalen Sprengstoffbesitz zur Last. Worin die konkreten Vergehen des 25 Jahre alten Filinkow bestanden haben sollen, bleibt ein Geheimnis des FSB. Vor Gericht legte weder die Anklage überzeugende Beweise vor, noch konnten Zeugenaussagen zur Klärung der Vorwürfe beitragen, wonach die Petersburger »Netzwerk«-Mitglieder einen Sturz der verfassungsrechtlichen Ordnung herbeiführen wollten.
Bei Filinkows letztem Auftritt vor der Urteilsverkündung warf er allen an der Ermittlung beteiligten Instanzen Inkompetenz vor. In der Gruppe soll er konspirative Kommunikationsmethoden technisch begleitet haben. Als Informatiker demontierte er gekonnt die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe, die völlige Unkenntnis in Bezug auf verschlüsselte Internetkommunikation und die Nutzung frei zugänglicher weit verbreiteter Online-Kommunikationsdienste wie Jabber verrieten. »Was die Anklage als ausgefeilte Konspiration ausgibt, ist keine ausgefeilte Konspiration«, sagte Filinkow.
Als zentrale Beweismittel für die Existenz des »Netzwerks« dienten zwei Dokumente: Ein programmatischer Text, der eine Beschreibung der Zielsetzung und Gruppenstruktur enthält, und das Protokoll eines Treffens vom Februar 2017. Beide Dateien fanden sich auf Computern der Marke Toshiba, die bei Hausdurchsuchungen bei in Pensa verurteilten Antifaschisten sichergestellt worden waren. Allerdings wies die Verteidigung auf zahlreiche Ungereimtheiten in den Gerichtsakten hin. So taucht in den Durchsuchungsprotokollen als Fundort ein Notebook einer anderen Marke auf, das allerdings keine Festplatte enthalten haben soll. Laut einem Gutachten wurden die Dateien nach der Festnahme des Besitzers manipuliert.
Nicht durchsetzen konnte sich die Verteidigung mit ihrem Antrag auf Vorladung eines aus ihrer Perspektive zentralen Zeugen. Filinkow berichtete als erster der verurteilten Antifaschisten wenige Tage nach seiner Festnahme im Februar 2018 davon, mit Elektroschocks gefügig gemacht worden zu sein. Der mutmaßlich an der Folterung beteiligte FSB-Ermittler Konstantin Bondarew hätte vor Gericht dazu Stellung nehmen und zudem darüber aufklären können, wie es ihm möglich war, Einsicht in eine der oben erwähnten Dateien zu nehmen — volle zwei Monate vor deren offiziellen Auffinden. Der harte Urteilsspruch erweckt den Eindruck, dass Filinkows größte Schuld in seinem Mut besteht, nicht klein beizugeben. Nach der Urteilsverkündung wurden bei Protesten 30 Menschen verhaftet.
ute weinmann