Arman Sagynbayev, einer der Angeklagten im “Pensa-Fall” der terroristischen Vereinigung „Netzwerk“, sagte, er habe fast ein Jahr lang die Folter verschwiegen, um nicht im Gefängnis zu sterben. Während der Anhörung gab er an, dass er sich immer noch nicht sicher fühle.
Arman Sagynbaev wurde am 5. November 2017 in St. Petersburg von FSB-Offizieren inhaftiert. Der Anklage zufolge war Sagynbaev ein “Sappeur“in “Netzwerk” – er war verantwortlich für die Auswahl und Lieferung von improvisierten Sprengkörpern, Komponenten für deren Herstellung, Granaten, Minen und Brandmischungen und brachte den übrigen Teilnehmern bei, mit all dem umzugehen.
Sagynbaev wurde in Nowosibirsk geboren und lebte dort is zu seinem Umzug nach St. Petersburg. Er arbeitete als Programmierer im Novosibirsk, interessierte sich für Wissenschaften und Vegetarismus und war antifaschistischer Überzeugung. Sagynbaev war dreimal in Penza: im Mai 2015, Mitte 2016 und im Januar 2017. Zu dieser Zeit sah er andere Mitglieder des „Netzwerks“ bei Schnitzeljagden und Airsoft-Spielen. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme arbeitete er als Programmierer in St. Petersburg, baute Gemüse auf seinem Balkon an und stellte veganen Käse her.
LEBEN VOR DEM “Netzwerk”
Über den Neonazi-Angriff in Nowosibirsk
„Im Alter von 14 Jahren wurde ich von sieben Neonazis im Zentrum von Nowosibirsk angegriffen. Es war in der Innenstadt, an einer Haltestelle, zur Hauptverkehrszeit. Und niemand hat darauf reagiert. Ich wurde schwer verletzt, aber das Strafverfahren wurde eingestellt. 2013 kaufte ich eine traumatische Waffe. Zur Selbstverteidigung. Aber im Jahr 2015 gab ich sie weg: Ich habe eingesehen, dass ich sie nicht brauche und dass ich nie auf eine Person schießen könnte.
Über seinen Namen
„Ich mochte den Namen Arman nicht, oft stellte ich mich als Andrei vor. Wenn ich Arbeit suchte, stellte ich mich mehrmals als Andrei vor, denn wenn ich mich als Arman[Arman ist kein typisch russischer bzw. slawischer Name, Anm.d.Ü.] vorstellte, lehnten sie mich sogar vor einem persönlichen Treffen ab. So war es auch bei der Wohnungssuche. <…> Meine Großeltern tauften mich auf dem Namen Andrey und nannten mich “Andryusha”.
Über “Überlebensfähigkeiten”
Seit ich sieben bin wandere und rafte ich gern, wir machten das mit der Familie. Er diente nicht in der Armee wegen meiner Gesundheit. Aber ich interessierte mich für militär-strategische Spiele <…> Ich bin sehr oft per Anhalter gefahren. Zweimal bin ich viertausend Kilometer von St. Petersburg nach Nowosibirsk gefahren. Auf dem Weg dorthin besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwo liegen bleibt. Zu diesem Zweck lernte ich einige Fertigkeiten – natürlich nicht Überleben -, sondern Orientierung.
WANDERUNGEN, DAS “Netzwerk” UND DIE ROLLE DES “Sappeurs”
Über Beziehungen zu anderen Personen, die am “Netzwerk” beteiligt sind
„Ich kannte alle außer [Mikhail] Kulkov. Ich traf [Dmitry] Pchelintsev im September 2010 in Moskau und [Ilya] Shakursky im Mai 2015 in Penza bei einem Airsoft-Spiel. Ich habe [Maxim] Ivankin Mitte 2016 zweimal in Penza getroffen. Im Januar 2017 habe ich [Vasily] Kuksov und [Andrey] Chernov bei einer Schnitzeljagd im verlassenen Lager “Karasik” [Dorf Kolos, Penza Region] getroffen. Ich habe Jegor Zorin einmal gesehen.“
Über Wandern und Airsoft
„Ich habe mich 2015 für Airsoft interessiert, als ich Pchelintsev besuchte. [Mit anderen Personen, die am Netzwerk beteiligt waren], teilten wir das Interessen an Vegetarismus, Airsoft und [gemeinsamer] Erholung in ökologisch sauberen Gebieten [Penza]. <…> Ich habe die Spielregeln im Internet gegoogelt <…> Ich hatte kein [Airsoft] Ausrüstung, ich habe es gemietet. Einige spielten in Masken <…> Ich zog mir ein T-Shirt über. <…> Als das Interesse an Airsoft verschwand, hörte ich auf, nach Penza zu kommen.“
Über die Rollenverteilung
„Rollen in Spielen können sein: ein Arzt, Ingenieur, Taktiker, Kundschafter. Sie wurden nach dem Prinzip „Stein, Schere, Papier“ oder durch Abstimmung verteilt. <…> Aber im Allgemeinen ist dies natürlich ein Vertrauensspiel: Wenn man getroffen wird, muss man gehen. Es ist nicht sehr interessant, mit einer “unsterblichen” Person zu spielen.“
Über das Netzwerk, Terrorismus und Waffen
„Während der Treffen mit Pchelintsev sprachen wir über alltägliche Themen <…> Der Regierungs- und Politikwechsel wurde nicht diskutiert. Über die Gruppe “5.11” und deren Untergruppe “Sunrise” weiß ich nichts. Er nahm nicht an politischen Treffen und Kongressen teil. Ich habe keine Fähigkeiten im Schießen, keine im Herstellen von Sprengkörpern und Gemischen. Über Waffen-Verstecke in der Region Pensa erzählte mir Zorin nichts. Das wäre auch seltsam: Wir haben uns nur einmal im Auto auf dem Weg zu einer Schnitzeljagt gesehen.“
Über Vlad Dobrovolsky
„Mit Dobrovolsky [geheimer Zeuge “Kabanov” laut Anklage und Neonazi und Provokateur – laut Verteidigung] sprach ich im Januar 2017 in Penza und später über Skype. Shakursky hat mich darum gebeten auf Grund seiner eigenen Bekanntheit [unter den Penza-Neonazis]. Ich spielte die Rolle einer “verstoßenen” und unadequaten Person, die eine Revolution wünscht. Dobrovolsky erzählte mir, dass er in Tjumen Leute hat, die einen Staatsstreich arrangieren wollen, und lud mich dorthin ein. Ich sagte ihm, wie man das Betriebssystem [auf dem Computer] neu installiert. Dann fing ich an, ihn zu ignorieren <…>“
INHAFTIERUNG
Über die erste Durchsuchung
„Gegen 6.30 Uhr morgens [5. November 2017] klopften sie ziemlich laut bei mir [in St. Petersburg] an. <…> Mir wurde gesagt, sie sind Bezirkspolizisten und ich habe geöffnet. Es sind ca. fünf Leute auf mich eingestürmt, zwei von ihnen mit einer Waffe, die mir ins Gesicht gestochen hat. Sie schrieen: “Fresse auf den Boden, **** [unhöfliche Bezeichnung einer Frau], das ist der FSB!” Sie stießen mich zu Boden, hielten mir ein Papier vors Gesicht, wahrscheinlich einen Durchsuchungsbefehl, und legten mir Handschellen an. Der FSB hatte zwei Zeugen dabei. Am Ende gaben sie mir das Durchsuchungsprotokoll zum Unterschreiben und sagten: “Mach dich bereit, du wirst ins Gefängnis gehen.” Dann erfuhr ich, dass zwei von ihnen Beamte der FSB-Direktion in St. Petersburg waren, die übrigen waren Angestellte, einer von ihnen stammte aus Pensa. Es gab jedoch keinen einzigen technischen Spezialisten bei der Beschlagnahmung der elektronischen Geräte [ein Laptop, zwei Telefone und eine Festplatte, die von den FSB-Beamten geöffnet und vor Gericht nicht geöffnet worden waren. Sagynbaev sagte, dass das Laufwerk für eine lange Zeit inaktiv war].
Über die zweite Hausdurchsuchung und der Weg nach Penza
„<…> wir fuhren zum Ort meines tatsächlichen Wohnsitzes in [Petersburg]. Sie zogen mir einen Beutel oder Sturmhaube mit einem Schlitz über den Kopf. FSB-Offiziere ergriffen alles, was sie wollten, und packten es in dasselbe Auto [in dem Arman sich befand]. Im Protokoll schrieben sie eine Lüge: Die beschlagnahmten Sachen wurden an den Bundessicherheitsdienst in St. Petersburg und im Leningrader Gebiet übergeben. Durch den Beutel habe ich diese Sachen gesehen, sie sind die kompletten 30 Stunden mit mir nach Penza gefahren.“
Über elektrische Folter
„Als wir fuhren, holte einer der FSB-Offiziere eine braune Box heraus. Es gab variable Widerstände – wie bei einem Lautstärkeregler – und die Drähte [von der Box] wurden mit den Daumen meiner Hände verbunden. Sie haben den Strom angeschaltet. Ich habe geschrien. Pchelintsev beschrieb diese Empfindungen genau: Als ob sie deine Haut lebend abziehen würden <…>.
[FSB-Offiziere] stellten wahnhafte Fragen über die Gruppe „5.11“, meinen Trainer im Fitnessstudio, und wie man Bomben herstellt. <…> Sie sagten selbst, wie man eine Bombe baut und was [ich] zu sagen hatte. <…> Sie drohten, die Stromsensoren an den Genitalien anzubringen. All dies wurde von obszöner Sprache, Beleidigungen und Schlägen auf den Kopf begleitet.
Über den veganen Burger, Salpeter und Puder
„In meiner Tasche [während der Inhaftierung] hatte ich einen Notizzettel mit einer Produktliste. Ich weiß nicht, wie sie [die Liste] von [Ermittler] Tokarev in dieser Form zu Papier gebracht wurde [laut der Anklage fanden sie auf Sagynbaevs Festplatte das Dokument „Netzwerk Code“, das unter anderem ein Rezept für einen veganen Burger enthielt]. <…> Das bei der Hausdurchsuchung gefundene Ammoniumnitrat, nutze ich als Dünger. Aluminiumpulver ist ein Teil der reflektierenden Elemente für den Anbau von Pflanzen. Ich wollte sie herstellen und verkaufen, weil die Preise für westliche Pendants auf dem Markt seit 2014 gestiegen sind.“
DAS LEBEN IN DER UNTERSUCHUNGSHAFT
Über Strafzelle und Einzelhaft
„Ich war einen Monat in einer Spezialblock, wo es kalt und feucht ist. Dies ist die Einzelzelle Nr. 26, in der Pchelintsev saß. Ich würde es als einen Ort beschreiben, der dem Tod förderlich ist. Deshalb gab ich ein Gestöndnis ab, um nicht zu sterben. <…> Als ich in die Untersuchungshaftanstalt zurückkehrten und Zeugenaussagen ablehnten, fanden sie eine Klinge in einer Streichholzschachtel. Aber sowas hatte ich nie. Danach wurde ich drei Tage lang in eine Strafzelle gesteckt. <…>“
Über das Geständnis
„<…> die FSB-Beamten forderten mich auf, die Teilnahme an der Terrorgemeinschaft zugestehen. Also sage ich es. Denn “wenn sie mich in Gewahrsam nehmen, können sie kommen und bekommen, was sie wollen.” <…> Ich gab Geständnisse ab und trat davon bis auf weiteres nicht zurück [Sagynbayev gestand am 1. Juni 2018, berichtete von Folter am 4. September 2018], weil die Ermittler Druck ausübten. Sie sagten: “Wenn Sie sich auf den 51. Artikel beziehen [sich weigern, gegen sich selbst auszusagen], lassen wir [Anna] Topchilova [das Mädchen, dem Sagynbaeva damals nahestand, nach seinen Worten, Beziehungen] durch die gesamte Operationsabteilung gehen.” Sie nannten die Adresse, wo die Tochter mit seiner Ex-Frau lebt. <…> In dieser Situation hielt ich es für die einzig richtige Entscheidung, alles zu unterzeichnen, was sie [die FSB-Offiziere] wollten. Dann merkte ich immer wieder, dass sie mit meinen Lieben alles machen konnten.
Er bat den Anwalt, nichts zu tun, was den FSB verletzen, verärgern oder schädigen könnte. Ich wollte nicht, dass mein Dach geht. Aber ich fühle mich immer noch nicht sicher.
Über die Gesundheit
„Ich habe eine schwere chronische Erkrankung und bin in Nowosibirsk registriert. Jeden Tag nehme ich zweimal am Tag Medikamente in der Untersuchungshaft. Aber das ist noch lange nicht alles, was ich brauche. Nach der Festnahme habe ich 10 Behandlungstage und 20 Medikamente verpasst. Als ich zur Untersuchung ins Krankenhaus nach Saratow gebracht wurde, verpasste ich weitere drei Tage. Jetzt hab ich ständig Kopfschmerzen. Ich habe Beschwerden über Tätigkeiten der Angestellten der medizinischen Abteilung des Untersuchungsgefängnisses geschrieben, aber sie werden ignoriert.“
Bei der Anhörung berichtete Ekaterina Kosarevskaya – Mitglied der St. Petersburger öffentlichen Überwachungskommission, über die Folter von Dmitry Pchelintsev, Arman Sagynbayev, Viktor Filinkov und Igor Shishkin. Sie sagte, dass Filinkov während der Folter gezwungen war, sich den Namen “Pchelintsev” einzuprägen, und Pchelintsevs Zähne begannen zu bröckeln, nachdem er mit einem Knebel im Mund gefoltert worden war “.
Kosarevskaya wurde als Zeugin der Verteidigung vor Gericht in Penza geladen. Sie sagte dem Gericht, dass sie im Januar 2018 Anzeichen von Folter durch Strombei Viktor Filinkov und Igor Shishkin gesehen habe. Anfang Februar veröffentlichte die Kommission einen Bericht über die Untersuchungsergebnisseder Folter von Filinkov und Shishkin.
In der erweiterten Fassung des Berichts vom 16. Oktober 2018 gibt es laut Kosarevskaya ein Kapitel zum Fall „Netzwerk“, das auch das Zeugnis über Folterungen des Angeklagten von Pensa – Arman Sagynbaev – enthält.
Die Zeugin fügte hinzu, dass sie sich im Juli 2018 mit dem Pensaer Angeklagten Dmitry Pchelintsev im zentralen Untersuchungsgefängnis von St. Petersburg getroffen habe – als er aus Pensa nach St. Petersburg wegen Ermittlungsmaßnahmen gebracht wurde. Während des Treffens erzählte er ihr von den Folgen der Folter mit elektrischem Strom.
„Er wurde im Herbst 2017 und im Februar 2018 gefoltert. Deshalb habe ich bei unserem Treffen natürlich keine Folterspuren gesehen. Aber zerbröckelnde Zähne sind auch Spuren von Folter“, sagte Kosarevskaya dem Gericht.
Das Gericht hakte nach, ob an der Ausarbeitung des Berichts medizinische Sachverständige beteiligt waren. Der Zeuge erklärte, dass dies nur im Fall von Filinkov und Shishkin zutraf. Das Kapitel über Sagynbaev basierte, wie sie sagte, auf den Protokollen der Befragung seiner Anwältin Olga Rakhmanova zur Folter. Von der Folter von Pchelintsev Kosarevskaya weiß sie nur aus seinen Worten und aus offiziellen Appellen an die Ermittlungsbehörden.
Nach dem Verhör von Kosarevskaya forderten die Anwälte das Gericht auf, beide Im Ergebnis der Anhörung von Kosareva baten die Anwälte darum beide Schlussfolgerungen der Kommision der Akte beizufügen. Die Richter versprachen, auf einer der folgenden Sitzungen zu antworten.
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