Vor dem Landgericht Pensa wird das Strafverfahren gegen die sieben Pensa-Antifaschisten fortgesetzt, denen vorgeworfen wird, sie hätten die Bewegung des „Netzwerks“ ins Leben gerufen und sich daran beteiligt. Der Fall wird von drei Richtern des Militärgerichts des Wolga-Bezirks verhandelt. Die Staatsanwaltschaft versuchte, Beweise vorzulegen, aber einer der Angeklagten, Dimitrij Ptschelintzew, beschloss, den Prozessablauf zu ändern, und gab gleich zu Beginn Beweise ab. Er berichtete über das antiautoritäre Umfeld, Airsoft-Teams, Schnitzeljagden und Folter.
Im Fall Pensa gibt es sieben Beschuldigte: Maxim Iwankin, Wassili Kuksow, Michail Kulkow, Dimitrij Ptschelintzew, Arman Sagynbajew, Andrej Tschernow und Ilja Schakurskij. Sie alle werden beschuldigt, sich in einer terroristischen Gemeinschaft organisieren und daran teilgenommen zu haben. Abgesehen davon werden Schakurskij, Ptschelintzew und Kuksow zusätzlich noch des illegalen Waffenhandels beschuldigt. Tschernow, Kulkow und Iwankin werden bezichtigt versucht zu haben Drogen herzustellen und zu verkaufen. Ptschelintzew wird noch separat der Versuch, das Eigentum eines anderen vorsätzlich zu beschädigen vorgeworfen.
In St. Petersburg wird der Fall des Netzwerks gegen Viktor Filinkov und Yuli Boyarshinov behandelt. Letzte Woche wurden die “Penzaer Beschuldigten” in diesem Fall als Zeugen verhört. Von den Sieben bezog sich Maxim Ivankin auf den 51. Artikel und weigerte auszusagen, und Ptschelintzew und Sagynbayev sagten, dass das „Netzwerk“ nicht existiere und sie mit den petersburger Beschuldigten nicht vertraut sind. Nachdem die penzaer Beschuldigten beantragt hatte, die Fälle in St. Petersburg und Penza in einem Verfahren zusammenzuführen, befand das Gericht hierfür keinen Grund.
In einer regulären Sitzung am 22. Mai legter Staatsanwalt Sergeij Semerenko das Beweisverfahren fest: Beginn mit der Vernehmung von Zeugen für die Strafverfolgung, Prüfung der schriftlichen Unterlagen des Falls, Zurverfügungstekllen der Beweismittel und Verhörung der Angeklagten. Aber Dimitrij Ptschelintzew bot an, den Prozess gemäß seinem „Szenario“ zu starten – er erklärte, dass er bereit sei, zuerst auszusagen.
Das Gericht erklärte sich bereit, Ptschelintzew anzuhören, und erinnerte daran, dass das Gesetz den Angeklagten erlaubt, in jeder Phase des Prozesses auszusagen.
„Ich verstehe nicht, welche meiner Handlungen man unter Paragraf 205.4 (Gründung und Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung) einstufen kann, ich habe keine Ahnung, gegen was ich mich eigentlich verteigen soll. Das Wort „Terrorist“ und ihm stammverwandte Wörter kommen 268 Mal vor – häufiger als Präpositionen und Konjunktionen“, begann er.
Ptschelintzew wiederholte erneut, dass er weder etwas über die „Netzwerk“-Vereinigung noch über die Verteilung der Rollen darin noch über deren Regeln und andere ihr zugeschriebene Ereignisse wusste.
Seiner Meinung nach existierte diese Bewegung in der Realität nicht, sie wurde von den FSBlern (Inlandsgeheimdienstler der Russischen Föderation) erfunden – “lediglich die Einbildung der Ermittler”.
“Ich verurteile jede terroristische Aktivität streng, ich stehe ihnen äußerst negativ gegenüber”, fügte Ptschelintzew hinzu.
Er merkte an, dass er beschuldigt wurde, eine der Zellen der Bewegung „Netzwerk“ – „5. November“ – geschaffen zu haben. Dies ist der Name seines Airsoft-Teams und es gibt keinen versteckten Kontext.
“Die Teams sind in “grün” und “rot” unterteilt.” Wo ich gespielt habe, waren die Namen der Mannschaften fiktiv. Wenn die Mannschaft für “die Roten” spielte, heißt das nicht, dass sie Bolschewisten waren. Es gab auch eine Bezeichnung während des Spiels, dass ein Team von fiktiven “Nationalisten” “5. November” genannt wurde und die anderen Antifaschisten – mit dem fiktiven Namen “Sonnenaufgang”. Ich habe für beide Mannschaften gespielt. Natürlich gab es unter uns keine Nationalisten“, erklärte Ptschelintzew.
Er erklärte dem Gericht ausführlich, um was es sich bei einer antiautoritären Szene handelt, der er sich angehörig fühlt. In einem solchen Umfeld gibt es laut Ptschelintzew keinen Führer, alle Entscheidungen werden auf der Grundlage eines Konsenses getroffen. So wurden beispielsweise Rollen bei Airsoft-Spielen nach dem Prinzip „Stein, Schere, Papier“ verteilt.
„Im antiautoritären Umfeld teilen die meisten die Idee des Humanismus und glauben, dass das Leben wichtig ist. Man darf weder Menschen, noch Tieren und Insekten das Leben nehmen. Ich töte zum Beispiel keine Mücken, sondern puste sie weg“, sagte Ptschelintzew.
Ptschelintzew betonte, er betrachte sich nicht als Anarchist, sondern als Antifaschist. Jene und Anarchisten hält er für friedliche Menschen. “Wenn Sie in die anarchistische Szene gehen und fragen, ob sie die verfassungsmäßige Ordnung stürzen wollen, werden sie Sie wie einen Dummkopf ansehen”, lächelt Ptschelintzew.
Zu den Vorwürfen der Verschwörung und der Verwendung fiktiver Namen sagte Pchelintsev, dass unter ihnen häufig Pseudonyme verwendet würden. Manchmal nahmen sie fiktive Namen, um sich vor Neonazi-Angriffen zu schützen.
Auf Fragen eines Anwalts berichtete Ptschelintzew über seine Bekanntschaft mit anderen Angeklagten des Falls. Insbesondere lernte er Schakurskij nach der Armee kennen, ging mit ihm zusammen ins Fitnessstudio, traf sich mit Tschernow und Sagynbajev bei Konzerten, arbeitete mit Iwankin in einem Restaurant und nahm mit Kulkow an Airsoft-Spielen teil. Und mit Kuksow war das überhaupt nicht bekannt.
Nach Angaben von Ptschelintzew wurden die in den Fall verwickelten Personen nicht in seinen engsten Kontaktkreis einbezogen. Auf die Frage nach der Verteidigung, warum er zum Anführer der Gruppe gewählt wurde, erklärt Ptschelintzew, dass die Wahl des FSB aufgrund seiner aktiven Lebensposition, seines breiten Kontaktkreises und seiner Arbeit als Schießlehrer auf ihn fiel:
„Es war gegen mich am einfachsten, einen Fall in Gang zu setzten. Fünf Waffen, die offiziell auf mich registriert wurden, Militärdienst, eine Position als Schießlehrer “, schlug der Angeklagte vor.
Er machte das Gericht auf Unstimmigkeiten aufmerksam, die sich auf die sogenannten “Zusammenkünfte der Zellen” und “Feldausflüge zum Üben von Kampffertigkeiten” beziehen. Dies ist der Begriff, den die Untersuchung als Airsoft-Spiele und Schnitzeljagden bezeichnet. In den Akten stehen die Treffen des “Netzwerks” in Penza im Januar-Februar 2017 im Raum. Ebenfalls unterstellt sind „Ausflüge“ im November 2015, Juli 2016, „Training“ in der Nähe der Fabrik „Biosintez“, im Naturschutzgebiet Akhuny und im Gebiet des Dorfes Konstantinovka in der Region Penza. Pchelintsev sagt, dass er nicht da war.
Aber er sei auf einer Schnitzeljagd in der Nähe des verlassenen Karasik-Lagers gewesen, sei “aus Geselligkeit“ mitgegangen und habe Tschernow mitgenommen. Ein anderes Mal fuhren sie in das Dorf Mokshan, “um einfach abzuhängen” und machten ein Video: “Es gibt eine psychiatrische Klinik in der Nähe, und wir beschlossen, sie wegen der Atmosphäre an dem Tag zu drehen, an dem die Bewohner spazieren gehen. Die Idee des Videos war, als wäre die ganze Welt verrückt geworden.“
Bezüglich der Zusammenkunft der Gruppe “5. November” in St. Petersburg, bei der laut der Staatsanwaltschaft im Februar 2017 die Bereitschaft der Kampfgruppe überprüft wurde, negiert Ptschelintsew seine Teilnahme daran vollständig.
Die Untersuchung versuchte, ihren Fall mit der “Artpodgotowka”-Bewegung von Wjatscheslaw Maltzew in Verbindung zu bringen, aber es hat nicht funktioniert, sagt der Angeklagte.[“Artpodgotowka” ist zum einen ein von Wjatscheslaw Wjatscheslawowitsch Maltzew moderierter Videoblog und zum anderen eine russische sozialpolitische interregionale Organisation mit nationalistisch-linkem Charakter. Es ist als extremistisch eingestuft und auf dem Territorium der Russischen Föderation verboten. Wjatscheslaw Wjatscheslawowitsch Maltzew – ist ein russischer Politiker mit gemäß eigener Aussage nationalistischer Ausrichtung, der sich populistischer Methoden bedient. „ArtArtpodgotowka“ ist im Russischen zweideutig und kann “Kunstvorbereitung” als auch “Artillerievorbereitung” heißen, Anm.d.Ü.]
“Die Ermittler sagten danach zu mir: “Sag, dass vor hattest für den IS zu kämpfen”. Danach boten sie mir an zu schreiben, dass ich zu den Maltzewskern fuhr, um mich einem Kampftraining zu unterziehen, und zu sagen, dass diejenigen, die sie nicht finden konnten, auch dorthin fuhren. Sie selbst wussten nicht, was sie sich ausdenken sollten“, erinnert sich Ptschelintzew.
Er fügte hinzu, dass, als er angeklagt wurde, die Ermittler ihm die Wahl gelassen hatten: Er gebe die Schuld für alle Handlungen zu und erhalte Teil 2 von Paragraf 205.4 (Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung – Minderung der Anklage) oder er gibt nichts zu und bekommt den ersten Teil [des Paragrafen 205.4 – Organisation einer terroristiscvhen Vereinigung, Anm.d.Ü] als Organisator bekommen. Nach Ansicht von Ptschelintzew hatte die Untersuchung im Voraus zwei Optionen für die Strafverfolgung. Folgt der Angeklagte der ersten Option, wird im Fall eine “nicht identifizierte Person mit dem Rufzeichen “Timofey” als Organisator auftauchen.
Während des Verhörs erzählte Ptschelintzew auch neue Details darüber, wie er von Oktober 2017 bis September 2018 gefoltert und verprügelt wurde. Er erinnerte sich an die ersten Folterungen in der Strafanstalt Pensa unmittelbar nach der Festnahme:
„Ich ging in die Zelle Nr. 52, dann traten 6 FSB [Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation]-Offiziere und -Mitarbeiter ein. Ich habe nicht verstanden, was los war, weil ich das erste Mal in der Untersuchungshaftanstalt war. Mir wurde gesagt, ich solle mich ausziehen, ich setzte mich auf die Bank. Nachdem sie angefangen hatten, meine Füße mit Klebeband an der Bank zu befestigen, verstand ich, dass alles im Eimer war. Alle Angestellten trugen Sturmhauben und medizinische Masken. Sie verbanden die Drähte mit den großen Zehen und schalten den Dynamo ein. Sie haben nicht einmal etwas gefragt. Ich fühlte den Strom bis ca. zu den Knien. Es fühlt sich an, als würde die Haut abgerissen. Ich wurde fünfmal geschlagen. Sie sagten: „Falls du es noch nicht verstanden hast, du bist in den Händen des FSB, und wir spielen nicht mit dir. Antworten wie “Nein” und “Ich weiß nicht” sind nicht die richtigen Antworten.” <…> Meine Knie waren aufgeschlagen. Es war Blut auf dem Boden, sie sagten, ich sollte es mit dem Knebel, der in meinem Mund war, vom Boden wischen. Sie warnten mich, wenn sie gefragt wurden, warum ich geschrien hatten – sollte ich antworten: “habe gesungen.” Wenn jemdand fragt, warum die Knie aufgeschlagen sind – soll ich sagen, “habe gebetet.”
Ptschelintzew wurde mehrmals angeboten, einen Deal zu machen und Geständnisse abzugeben, um die Anklage zu mildern. Ihm wurde mit dem Mord an seiner Frau bedroht, “werden wir sie in den Wald bringen und ihr den Kopf abschneiden.” Ihm zufolge kam das letzte Mal im August 2018 das Angebot, diesmal zwangen sie ihn gegen Schakurskij und Tshernow auszusagen. „Ich wurde angeklagt und habe den ersten Teil gewählt [§ 205.4 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation]“, schloss Pchelintsev ab.
Die nächste Anhörung ist für den 27. Mai geplant. Der Staatsanwalt beabsichtigt, Jegor Zorin zu befragen, der zuerst ein Geständnis abgab und gegen die anderen Angeklagten aussagte. Er wurde später in den Hausarrest verlegt und dann vollständig zum Zeugen.