Am 14. Mai begann vor dem Militärgericht des Wolga-Bezirks ein offenes Verfahren gegen sieben junge Anarchisten aus Pensa, die sich laut FSB [Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, Anm.d.Ü.] in der terroristiscjen Vereinigung „Netzwerk“ zusammengeschlossen hatten, um die Regierung der Russischen Föderation zu stürzen. Zeitgleich nahm das Moskauer Bezirksmilitärgericht die Anhörung zweier Angeklagter aus dem Fall St. Petersburg auf. Als Führer des “Netzwerks” – obwohl es sowas in anarchistischen Bewegungen nicht gibt – werden Dmitry Pchelintsev und Ilya Shakursky beschuldigt, die beide behaupteten, dass sie in der Strafanstalt Penza mit Strom gefoltert wurden.
Zwei Fälle desselben „Netzwerks“ (der Name der in der Russischen Föderation verbotenen terroristischen Vereinigung), werden nun parallel betrachtet. Gestern erschienen zum ersten Mal die sieben Angeklagte im Hauptfall Pensa auf der Anklagebank. Nach Angaben des FSB [Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, Anm.d.Ü.]entstand in Penza spätestens im Mai 2015 das „Netzwerk“ der interregionalen terroristischen Vereinigung mit dem Ziel, „Anarchisten aus verschiedenen Regionen der Russischen Föderation zu Kampfgruppen“ zusammenzufassen, um das verfassungsmäßige System gewaltsam zu stürzen, indem Gebäude von Sicherheitsbehörden, Behörden und Ämtern und Büros von “Einiges Russland” besetzt werden. Die Rolle der Organisatoren (Teil 1 von Art. 205.4 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation) sollen der 27-jährigen Schießlehrer Dmitry Pchelintsev und der 23-jährigen Studenten Ilya Shakursky inne haben, denen dadurch bis zu 20 Jahren Haft drohen. Die Teilnahme am Netzwerk (Teil 2 von Artikel 205.4, bis zu 10 Jahren) wird Arman Sagynbayev, Wassili Kuksov, Andrey Chernov, Michail Kulkov und Maxim Ivankin angelastet.
Das Lesen der Anklage dauerte ungefähr zweieinhalb Stunden. Das Dokument besagt, dass Mitglieder der Vereinigung Kampf- und Jagdwaffen erworben und Sprengsätze hergestellt, Bücher gelesen, die terroristische Handlungen “gerechtfertigten” und in der Natur trainiert haben.
Die Untersuchung geht davon aus, dass Ilya Shakursky für die Erforschung von Orten und Objekten potenzieller Angriffe verantwortlich war. Arman Sagynbayev war angeblich für den Umgang mit Sprengkörpern und Brandmischungen verantwortlich, Mikhail Kulkov für die medizinische Betreuung, Andrei Chernov für die Kommunikation. Neben dem Hauptartikel werden die Angeklagten Pchelintsev, Kuksov und Shakursky des illegalen Besitzes von Schusswaffen (Teil 1 von Artikel 222), letzterer zusätzlich noch von Sprengstoffen (Teil 1 von Artikel 222.1) angeklagt. Außerdem wird Herrn Pchelintsev vorgeworfen, im Jahr 2011 versucht zu haben, das Kreiswehrersatzamt von Pensa in Brand zu stecken (Artikel 167 Teil 2 und Artikel 30 Teil 3), und Herrn Chernov, Ivankin und Kulkov wird vorgeworfen, versucht zu haben, Drogen in großem Umfang herzustellen oder zu verkaufen ( Teil 4 von Artikel 228.1 zusammen mit Teil 3 von Artikel 30). Fünf Angeklagte bestreiten die Beteiligung an den ihnen zur Last gelegten Straftaten in vollem Umfang, die Angeklagten Kulkov und Ivankin bekannten sich schuldig an dem versuchten Verkauf von Drogen.
Es wird angemerkt, dass die Ermittlungen im Fall „Netzwerk“ nach einer Verhaftung in Zusammenhang mit Drogen begannen und dann – mit dem Erscheinen eines anderen Beschuldigten in Penza, Jegor Zorin, am 18. Oktober 2017. Nachdem er gegen die anderen Aussagen machte, wurde sein Fall – Teilnahme am “Netzwerk” – eingestellt (jedoch in einem gesonderten Verfahren wird ihm Besitz von Drogen unterstellt). Gleichzeitig sagten drei der Angeklagten, die gestanden hatten, dass sie ihre Aussage zurückgezogen hatten, da sie unter Folter abgegeben wurde. Arman Sagynbayev, der in St. Petersburg inhaftiert ist, behauptet, er sei in einem Auto auf dem Weg nach Penza, Dmitry Pchelintsev und Ilya Shakursky der pensaer U-Haft-1 mit Elektroschocks gefoltert worden. Über Folter in der gleichen U-Haft am Vorabend des Prozesses im “Netzwerk”-Fall berichtet auch der Geschäftsmann Alexey Shmatko, dem in London Asyl gewährt wurde (Sein kürzlich an den Präsidenten der Russischen Föderation gerichteter Appell zu diesem Thema wurde an die Staatsanwaltschaft der Region Pensa und das Untersuchungaausschuss der Russischen Föderation verwiesen).
Dmitry Pchelintsev, Vasily Kuksov und Ilya Shakursky behaupteten laut Akte auch, dass ihnen Waffen untergeschoben wurden (bei den ersten beiden im Auto, bei letzteremn in der Wohnung). Darüber hinaus erklärte Dmitry Pchelintsev, der Ermittler Valery Tokarev habe ihn erpresst und ihm wegen Verweigerung von Geständnissen gedroht ihn einer schwere Anklage wegen Leitung des “Netzwerks” zu belasten. Gleichzeitig bestanden sowohl die als vermeindliche Föhrer beschuldigten als auch die “einfachen” Beschuldigten darauf, dass keiner von ihnen “Führungsverantwortung” habe, da die “horizontale” Struktur und das Fehlen von Führern das Schlüsselprinzip der Selbstorganisation von Anarchisten sei.
Die Angeklagte aus Penza sollten in den kommenden Tagen per Videoverbindung als Zeugen im Fall ihrer Genossen aus St. Petersburg sprechen – Viktor Filinkov, der die Teilnahme am „Netzwerk“ bestreitet, und Yuli Boyarshinova, der sich schuldig bekannte. In diesem Prozess, der nach der Pause am 14. Mai wieder aufgenommen wurde, trat der in St. Petersburg lebende Igor Shishkin, der einen Deal mit den Ermittlungen abgeschlossen hatte und bereits im Januar für dreieinhalb Jahre verurteilt worden war, als Zeuge auf. Er sagte nicht gegen die Angeklagten aus, er habe noch nie mit Filinkov trainiert, er habe ihn nur zweimal gesehen und er habe vom Hörensagen über seine Teilnahme am Netzwerk gewusst. Die Fragen der Verteidigung von Filinkov wegen undokumentierter 42-stündiger Inhaftierung und angeblicher Folterung von Igor Shishkin wurde vom Gericht abgelehnt.
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