Kurz zum Prozess in St. Petersburg:
Gegen Viktor Filinkov und Yuli Boyarshinov, die der FSB [Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, Anm.d.Ü.] als Teilnehmer der in Penza ansässigen „terroristischen Vereinigung “Netzwerk”“ ansieht (Artikel 205.4 Teil 2 des Strafgesetzbuchs), finden in St. Petersburg eine weitere Sitzungen des Moskauer Bezirksgerichts statt. Filinkov behauptete, mit Strom gefoltert worden zu sein, Boyarshinov erzählte von Prügel während der Inhaftierung und in der U-Haft; Ersterer gibt keine Schuld zu, Letzterer bat, seinen Fall im Spezialverfahren zu prüfen, was aber abgelehnt wurde. Eine der letzten Prozesstage wurden Korrespondenten von russischsprachigen Medien “Rosbalt”, “RAPSI”, “Fontanka”, “TASS”, “Nevskiye Novosti”, “Novaya Gazeta” und “Bumayi” nicht zum Prozess gelassen – Der Angeklagte Julij Bojarshinow sagte vor Gericht aus – die ersten Gerichtsvollzieher ließen aber Jurastudenten gewähren, und zusätzliche Tische in der Halle wurden entfernt.
Zusammenfassung der letzten drei Prozesstage – Aussagen der Angeklagten:
Der Angeklagte Julij Bojarshinow sagte vor Gericht aus – er gab formell seine Schuld zu und erzählte, wie er nach dem Sieg des ukrainischen Maidans zusammen mit seinen Genossen die Lage in Russland diskutierte. Dem Angeklagten zufolge “glaubte er, dass ein Umsturz in Russland möglich ist”, bei dem die Ultra-Rechten eine bedeutende Rolle spielen können, weshalb Antifaschisten bereit sein sollten, sie abzuwehren.
Dafür haben sich Boyarshinov und seine Freunde für Partizan-Kurse in St. Petersburg angemeldet – sie werden legal durchgeführt, jeder wird unterrichtet, Schusswaffen zu benutzen, Erste Hilfe zu leisten, im Wald zu überleben, Funkverbindungen zu nutzen, die Grundlagen des Sprengstoffgeschäfts werden erklärt. Laut Boyarshinov wurden seine Genossen auf diesen Kursen in Spezialgebieten aufgeteilt (zum Beispiel wurde er selbst als Sappeur eingeteilt) – die Untersuchung betrachtet ihn als ein wichtiges Charakteristikum der terroristischen Vereinigung.
Zur Ausbildung kaufte der Angeklagte eine Kalaschnikow-Sturmgewehr-Attrappe. Bei einem dieser Trainings traf er Alexandra Aksenova, eine Aktivistin und die Ehefrau von Viktor Filinkov. Auch der bereits verurteilte Igor Shishkin (er hat einen Vorverfahrensvertrag geschlossen und hat aktiv an der Untersuchung mitgearbeitet) nahm daran teil..
Im Sommer 2016 war Boyarshinov bei dem Treffen anwesend “mit den Jungs aus Penza, die sich auch für Selbstverteidigungsfragen interessierten”. Speziell für dieses Treffen haben sie sich Pseudonyme ausgesucht, weil sie sie noch nicht kannten.
“Die Leute aus Penza zeigten ein Dokument, das sie “den Kodex” nannten. Sie haben ein bestimmtes Projekt namens “Netzwerk”, das geschaffen wurde, um die Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen herzustellen und sich in Notwehr zu engagieren”, sagte der Angeklagte.
Bojarshinow berichtete von mehreren Treffen, an denen nicht nur Aktivisten aus St. Petersburg und Penza, sondern auch Moskauer teilnahmen. Ihm zufolge sprachen sie über die Theorie und Praxis der Selbstverteidigung und trainierten mit Waffenmodellen. Sie haben nie über “terroristische Aktionen” gesprochen, betonte er.
Als er über das Schwarzpulver sprach, das ihm wegen illegalen Handels mit Sprengstoffen vorgeworfen wurde, bemerkte Boyarshinov, dass er als Industriekletterer arbeitete und im Oktober 2016 eine Kiste auf einem Dach fand, in der sich unter anderem Schießpulver befand. Er interessierte sich für den Fund und nahm das Pulver mit.
– In dem Dokument, das sich “Kodex des Netzwerks” nannte, stellte ich nach sorgfältiger Prüfung fest, dass der Zweck des “Netzwerks” die Schaffung militanter Organisationen und des gewaltsamen Sturzes der Macht war. Dann habe ich mich nicht weiter dafür interessiert. Ich möchte hinzufügen, dass ich die Ideologie des Terrorismus nicht geteilt habe und nicht teile. Ich bedaure, dass ich in einer solchen Gemeinschaft geraten bin “, sagte Boyarshinov dem Gericht.
Zusammenfassung der letzten drei Prozesstage – Aussage von Zeugen:
Nach dem Angeklagten Boyarshinova verhörte das Gericht drei Zeugen: Programmierer – Kollegen von Viktor Filinkov.
Jegor Kirillow, erinnerte sich, wie er nach dem Verschwinden von Victor mit dessen Frau schrieb – sie war im gleichen Telegramm-Chat mit ihrem Ehemann und seinen Kollegen.
“Fleißig blieb ich viel bei der Arbeit, wie alle unsere Kollegen zu dieser Zeit, wir saßen spät auf, kommunizierten fröhlich, freundlich, lachten gern über sich selbst, führten ein fröhliches Gespräch”, charakterisierte der Zeuge Filinkov.
Stepan Prokofiev, der Mitbewohner des Angeklagten, sagte, dass in der Wohnung ein Safe mit einer gesetzlich registrierten Waffe aufbewahrt wurde, die Filinkovs Frau gehörte. Filinkov zufolge ist Prokofjew Grund, ihn zu verleumden – da er von FSB-Offizieren während einer Durchsuchung in ihrer Wohnung unter Druck gestzt wurde.
Prokofjew erinnerte sich, dass Filinkov in den Neujahrsferien mit seiner Frau in Kiew war, und am Vorabend seiner Verhaftung würde er wieder zu ihr fliegen und war besorgt – er sagte, dass seine Frau einen Unfall hatte. Laut dem Zeugen sagte sein Nachbar in einem Gespräch voraus, dass “Rashka [Russland, Anm.d.Ü.] auseinanderfallen wird”.
Diana Fomina, die frühere Chefin von Filinkov, bedauerte, dass das Team ihn wegen seiner Verhaftung verloren hatte: „Als sehr guter Profi erledigte er am ersten Tag, einige Aufgaben in wenigen Stunden ab. Es ist sehr schnell, ein sehr guter Spezialist.“
Viktor Filinkov selbst beschloss, sofort auszusagen – der Angeklagte erklärte, wo der Safe mit einer Waffe in der Wohnung auftauchte: Er überreichte seiner Frau Alexandra Aksenova eine Vepr-12-Molot Glattrohrwaffe. Zwecks Dokumenten gingen sie nach Moskau und registrierten die Waffe.
Schließlich hörte das Gericht Natalia Filinkova, Victors Mutter. Sein Vater ist bereits tot. Die Mutter sagte, dass ihr Sohn immer Computer mochte, sein Abitur in Kasachstan abschloss, danach die Universität in Omsk besuchte, sein Studium jedoch nicht abschloss und nach einiger Zeit nach St. Petersburg zog, wo er Arbeit fand.
“Er war einer der besten Schüler der Stadt, er hat viele Zertifikate, er hat die Schule auf ein solches Niveau gebracht …”, sagte die Mutter vor Gericht. – Er hat sich sehr gut bewährt, hatte noch nie so etwas, dass er mit der Macht unzufrieden war.
Prozesstag vier:
Gleich zu begin reicht Vitaliy Cherkasov, der Anwalt von Viktor Filinkov, einen Antrag ein: Er bat um komfortablere Bedingungen für das Publikum im Saal. Er sagte, dass viele Journalisten bei der letzten Sitzung reingelassen wurden und bat das Gericht, eine ihnen doch die Möglichkeit zu geben. Cherkasov erinnert auch daran, dass es bei den ersten Sitzungen im Saal mehr Sitzplätze gab, die jedoch entfernt wurden. Der Anwalt bittet um die Wiederherstellung von Sitzgelegenheiten, damit sich die Presse setzen kann.
Der Vorsitzende Richter Muranov stellt fest, dass es jetzt bei der Sitzung Medienvertreter gibt. Die Zuhörer sagen laut, dass man mehr Bänke bringen soll, es wird laut im Saal. Der Richter ist verlegen, lacht und sagt, dass er nicht weiß, wie er das machen soll.
Danach wird ein Zeuge für die Verteidigung in die Halle eingeladen. Dies ist ein Mann mittleren Alters mit Brille, sein Name ist Andrei Evstafiev. Der Zeuge spricht leise, Er arbeitet in einigen Wohnungseigentümergemeinschaft als Hausmeister.
Evstafiev sagt, dass er die Angeklagten nicht kennt. Der Angeklagte Filinkov bezweifelt, dass es möglich ist, Evstafyev zu vertrauen, da er während der Hausdurchsuchung als Zeuge herangezogen worden ist. Boyarshinov kennt Evstafieva nicht.
Der Zeuge erzählt, dass er vor einem Jahr vom FSB gebeten worden ist Zeuge bei einer Wohnungsdurchsuchung zu sein, kann sich aber nicht an Datum und Uhrzeit erinnern. Nur, dass dann ein Typ namens Arthur auftauchte. Er holte die Schlüssel heraus und öffnete die Tür zur Wohnung, die Durchsuchung begann.
Auf die Frage des Rechtsanwalt Cherkasov, wie der psychologischer Zustand von Filinkova war, gibt Evstafiev zu, dass er nicht auf Filinkov geachtet hat und sich nicht erinnert, ob er irgendwelche Verletzungen hatte. Neben Filinkov war noch ein Mann in der Wohnung – wahrscheinlich handelt es sich um Stepan Prokofiev. Der Zeuge berichtet, er hat gesehen, wie jemand zu Boden gedrückt wurde, aber kein Druck ausgeübt wurde. Die meisten Fragen zum Ablauf der Durchsuchung beantwortet der Zeuge mit “Weiß ich nicht mehr”. Den Bericht zur Durchsuchung hätte er danach gelesen udn unterschrieben, erinnert sich aber nicht mehr genau an den Inhalt “Irgendwas mit Terrorismus”.
Nun liest die Staatsanwaltschaft Kachurina den Bericht. Die Durchsuchung dauerte 3 Stunden und wurde zum Zweck des “Durchsuchens, um Waffen, Sprengsätze, extremistische Literatur sowie für die Ermittlungen wichtige Objekte zu entdecken und zu beschlagnahmen”, durchgeführt. Vorschriftsmäßig wurden der Durchsuchungsbefehl vor Beginn der Durchsuchung gezeigt worden. Bei der Durchsuchung wurden u.a. Handys, Karteikarten, Arbeitsunterlagen, Pässe, Registrierungszertifikate, Festplatten, Laptops, Macbooks, SIM-Karten wurden im Raum gefunden und beschlagnahmt. Danach wurden die beiden Bewohnenden – Filinkov und sein damaliger Mitbewohner Prokofjew mit auf die Station genommen.
Der zweite Zeuge, Arthur Ubedkov, betritt den Saal – ein pockennarbiger Mann von etwa 60 Jahren mit grauen Haaren. Er humpelt und trägt schmutzige Schuhen. Er ist Hausmeister. Von den Angeklagten kennt ihn niemand. Auf die Frage, ob er die beiden kennt, sagt er “Ja, vielleicht von der Durchsuchung”. Auf die Frage welchen antwortet er “Beide.” Lachen im Saal. [Filinkov und Boyarschinov wurden zu unterschiedlichen Tagen an unterschiedlichen Orten festgenommen, Ubedkov war lediglich bei der Durchsuchung in Filinkovs Wohnung anwesend, Anm.d.Ü.]
Der Zeuge erzählt, dass er im Januar 2018 vom FSB gebeten worden ist Zeuge bei einer Wohnungsdurchsuchung zu sein. Wer die Tür öffnete, weiß er nicht mehr, ein junger Mann lag schon mit dem Gesicht zum Boden, als er den Raum betrat. Ein anderer saß auf einem Stuhl. Und beide wurden dann weggebracht. NAch der Durchsuchung hat er den Bericht gelesen und unterschrieben.
Das Protokoll wird verlesen, ähnelt dem des ersten Zeugen, alles vorschriftsmäßig. Auf Rückfragen zum Verlauf der Durchsuchung antwortet der Zeuge nur mit “ich weiß es nicht mehr.”
Die Vernehmung des Zeugen endet hier.
Das Gericht wird am 14. Mai 11:00 Uhr weiter den Fall behandeln.
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