Mit dem Prozess gegen Igor Shishkin entstanden viele Mythen über die Haltung anderer Angeklagter zu seiner Position. Wir veröffentlichen Briefe von Ilya und Dima für diejenigen, die sich sicher sind, dass die Position von Igor von anderen Teilnehmern des Falls gebilligt wurde.
Ilya Shakursky
Ich kann Igor Shishkin nicht als Verräter oder Nestbeschmutzer bezeichnen, aus dem einfachen Grund, weil ich ihn nie gekannt habe, keine Hoffnung auf ihn gesetzt habe und er mir keine ewige Freundschaft geschworen hat. Aber ich werde ihn auch nie verstehen, so wie ich alle nicht verstehen kann, die mit ihrer Angst und Lügen die sogenannte Rechtsprechung für uns vorbereiten.
Denn er war tatsächlich weder mit mir noch mit den meisten Häftlingen in Penza vertraut. Und trotzdem “entlarvt” er unsere angeblichen terroristischen Aktivitäten.Glaubt sein Anwalt den Unsinn über seine Trainingsverletzungen wirklich? Dass Igor lügt ist offensichtlich. Dmitry Dinze [Anwalt von Igor Schischkin, Anm.d.Ü.] beschert uns zukünftige Repressalien und rechtfertigt damit die illegalen Handlungen der FSB-Offiziere.
Am 17. Januar fand ein Prozess wegen eines Mannes statt, der nicht die Kraft fand, die Wahrheit zu sagen. Er hat alle zukünftigen Opfer der Sicherheitsbeamten auf dem Gewissen. Jede Verbrennung eines Elektroschocker, jeder Bruch und jeder Kratzer wird das Ergebnis von Schweigen und Angst sein. Und während Igor Shishkin und Dmitry Dinze sagen, dass dies alles nicht geschehen wäre, wird die Liste der Opfer der Willkür seitens der sadistischen Sicherheitsbeamten wieder aufgefüllt. Ilya Shakursky
Dmitry Pchelintsev
Ich kenne Igor genauso gut, wie alle sich in der linken Szene gegenseitig kennen. Und wieviele, die Igor nicht kennen? Deshalb kann man argumentieren, dass der Vorwurf, er habe Verschwörung von Terroristen beobachtet – Unsinn. Ein Außenseiter in Sachen Szene kann viele undurchsichtige Details sehen, die Igor während der Ermittlungen und dem Prozess zugunsten des FSB ausspielt. Plötzlich ist mir aber alles klar. Als wir im Juli im Zuge einer Gegenüberstellung die Möglichkeit hatten uns in dessen vor- und nachhinein zu unterhalten, sagte Igor nicht fürs Protokoll nutzbar, dass die Folterungen, denen er ausgesetzt war, illusorisch waren standzuhalten. Herr Dinze hat nicht den Eindruck gemacht, als hätte er nichts gehört und machte mir sogar Vorwürfe, es sei alles so gekommen, weil ich die Folter „standhielt“, und daher sei die Verantwortung für die Misshandlungen an Igor allein bei mir. Und wie er lachte (mit einem Blick auf Igor), als ich sagte, dass ich nichts mit der Inhaftierung von Igor zu tun habe. Dinze musste wirklich Igors Vertrauen in seine Selbstgerechtigkeit und in die Position des Verratsopfers aufrechterhalten, um es Igor zu erleichtern, seinen schwierigen Weg fortzusetzen. Bald schon kam der Berg selbst zu Magomed, und wir nahmen wieder an einer Gegenüberstellung auf dem Boden des penzaer Sicherheitsdienstes teil. Und wieder las Igor von einem Blatt Papier ab. Aber der Tag zusammen war nicht umsonst. Es wurde uns zuteil, zusammen mit ihm in den Isolierzellen im Gefangenentransporter fuhren, wo es drei Plätze gab, von denen Igor zwei nahm (um darüber zu sprechen, was er uns selbst sagen wollte, deshalb kam er zu uns, um Dunkelheit und Enge zu teilen) und er beschrieb erneut seine Beweggründe. Wenn jemand es nicht verstanden hat, erkläre ich: Igor wurde grausamen Folterungen ausgesetzt (er sagte, er sei auf eine Streckbank gesetzt und mit Stromschlägen in die leistengegend misshandelt worden) und er hatte in den ersten Tagen keine Wahl. Die Wahl erschien nach ein paar Wochen, als die Bekanntmachung versprach, vor neuer Gewalt zu schützen. Versuchen wir uns zu erinnern, was damals passiert ist. Ich gab ine Erklärung [über Folter, Anm.d.Ü.] ab und sie kamen wieder zu mir [die FSBler, die dann wieder folterten, Anm.d.Ü.]. Igor erfuhr als einer der ersten davon. Kann man sich vorstellen, was in seinem Kopf vorging, als die Wunden vom 25.01.2014 noch frisch waren und der Kopf aufgrund der gebrochenen Knochen im Gesicht kaum schneller arbeitete? Und so ist mir alles klar. Aber der Hauptgrund und vielleicht der entscheidende Grund, den Igor in unseren beiden Treffen aussprach, war die Überzeugung, besser gesagt der Mangel an Glauben, dass die Gerechtigkeit in der Russischen Föderation stärker ist als der KGB. Igor war sich sicher, dass niemand es verstehen würde, und die Story der Wanzen bewies es dann auch [Ilja Kapustin – in Finland Asyl erhalten – wurde mit Elektroschokern misshandelt, seine Wunden dokumentiert, doch das FSB behauptete, es seien Wanzenbisse, Anm.d.Ü.]. Vielleicht denken Sie, dass ich ein Anhänger eines ähnlichen Glaubens bin, aber ich muss Sie schnell enttäuschen. Nein, ich mache mir keine Illusionen (seit dem 28. Oktober 2017 gegen 17:00 Uhr). Früherwurden Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und wenn jetzt Ic3peak [russische experimental-Elektroband, die seit 2018 mit dem neuen Album in vielen Städten Auftrittsverbote hatte, vermutlich, weil sie darin und in Musikvideos soziale Themen aufgreifen, Anm.d.Ü.] aus meinen Lautsprechern ertönt, interessieren sich die Verkehrspolizisten sich für meine Pupillen. Können die Gerichte je unabhängig werden? Irgendwann muss es anfangen, warum also nicht jetzt? Immerhin treten nur so Veränderungen auf. Verurteile ich Igor? So wurde er bereits für 3,5 Jahre verurteilt, ohne Beweisuntersuchung für etwas, was er nicht begangen hat. Igor ist in eine Situation geraten, aus der er nicht mehr rauskommt. Er ist auch gegenüber seinen Mitstreiter_innen und der Gesellschaft verantwortlich, daher bleibt, abgesehen von der Frage „Was zum Teufel?“, nur die Frage nach dem Verrat unseres Kampfes. Denn jetzt ist sein Urteil eine Trumpfkarte in den Händen der Sicherheitsdienstler_innen. Und vielleicht der einzige Trumpf. Grüße an alle, die sich selbst eine Grube graben. Vielleicht nicht diese Grube. Aber ein solcher Fall kann bei jedem von euch konstruiert werden.
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